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MARX Projekt Trier / project Trier
Ein Bild-Lese-Buch, Band / volume 1
Verlag im / published by Karl-Marx-Haus Trier, gebunden / bound, 96 Seiten / pages, 16 Farb- und zahlreiche S/W-Abbildungen / colour- and numerous black and white pictures, deutsch / german
Texte von / texts by Ludwig Hartinger, Dieter Huber, Ivo Kranzfelder, Barbara Sichtermann, Joscha Schmierer

 

 

Karl Marx, der Markt und die Medien

Barbara Sichtermann

Welcher Ökonom, Philosoph, Soziologe von heute wäre nicht stolz und glücklich, so viel Sekundärliteratur ermuntert zu haben wie Karl Marx? Allerdings kam der Nachruhm spät, war die Anerkennung zu Lebzeiten dürftig – doch immerhin, das 20. Jahrhundert vertiefte sich geradezu in Marx. Exegese, sog. Weiterentwicklung und praktische Umsetzung seiner Ideen überboten einander an Intensität und Lärm, bis schließlich irgendwann in den 80er Jahren, also ungegfähr 100 Jahre nach Marx´ Tod, der Zauber verflog und der „Geistes-Heros“ (DDR-Hommage) still beerdigt wurde. Der Mauerfall im Jahre 1989 besiegelte das Ende der Marx´schen Wirkungsgeschichte. Eine Weile redete man noch bedauernd oder hämisch davon, daß der große Aufklärer und Prophet nun endgültig widerlegt sei, dann wurden die Archive geschlossen.
Für´s erste. Es ist gut möglich, daß der fruchtbare Denker ein weiteres Mal gleichsam exhumiert wird, und daß sich eine neue Generation für seine Schriften interessiert; denn es gibt in ihnen immer noch gute Argumente für das, was am Ende dieses Jahrhunderts ansteht und auch im nächsten aktuell bleiben wird: die K r i t i k d e s M a r k t e s . Das frühe 20. Jahrhundert hat Marx vor allem als Theoretiker der A l t e r n a t i v e interpretiert, als Mann der Arbeiterpartei, der Pariser Commune, der Gegnerschaft gegen die illegitim herrschende Bourgeoisie, die das Proletariat ausbeutet. Marx versah die antibürgerlichen Parteien mit moralischer Munition und optimistischer Prophetie, er beschaffte Legitimation und Zukunftshoffnung. Ob er, wäre er in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts noch am Leben gewesen, mit dieser Rolle hätte Frieden schließen können, muß offen bleiben. Nach allem, was wir über ihn wissen, dürfen wir zweifeln. Aber selbst wenn er noch imstande gewesen wäre, Antworten zu geben, hätte man ihn nicht gefragt. Die russische Revolution hatte die Karten im Weltpoker neu gemischt, und Marx war Pate einer ebenso energischen und optimistischen wie terroristischen politischen Kraft geworden. Alles weitere lief von allein. Sein Name fiel stets, wenn sowjetische Errungenschaften oder Grausamkeiten zu bewundern oder anzuprangern waren, und die deutschen Fellow-travellers der KPdSU waren stolz darauf, daß i h r Land den „Geistes-Heros“ gezeugt hatte. Forcierte Industrialisierung auf Kosten der Liquidierung großer Teile der Landbevölkerung, ein unkontrollierbarer, allmächtiger Staatsapparat, der mittels Mord und Not regiert und das Volk, das er übel manipuliert, weit skrupelloser noch ausbeutet als alle Zaren zusammegenommen – dafür soll Marx gleichsam die Vorlage geliefert haben. Natürlich findet sich in seinen Schriften keinerlei Apologie einer Einparteiendiktatur mit imperialistischen Ausgriffen. Aber sein Name war und blieb nun mal mitgehangen und mitgefangen, und er ist für die ahnungslose junge Generation heute ähnlich blutbesudelt wie der Stalins, Mao Tse-tungs oder gar Hitlers. Zumindest steht er für das Scheitern einer Vision – und für die Gefahr, die von einer Vision ausgehen kann, wenn sie sich als ebenso unrealisierbar wie schwerbewaffnet erwiesen hat.
Marx war kein Pazifist. Und er hat die Diktatur als „Übergang“ zur Freiheit für eine mögliche, eventuell nötige, aber kurzfristige Lösung angesehen. Seine politische Phantasie war nicht besonders fruchtbar – das hängt damit zusammen, daß er in der Ökonomie das dynamische Fundament einer Gesellschaftsformation erkannt zu haben glaubte und den Institutionen politischer Macht keinen dauerhaft gestaltenden und umgestaltenden Einfluß auf gesellschaftliche Strukturen zutraute. Er wollte die Gesellschaft in einer Zone und in einer Funktion analysieren und dort für eine Umgestaltung werben, die es w e r t war, um die es sich l o h n t e , weil der ganze Rest: Macht, Bewußtsein und Moral sich dann von allein mitändern würden. Schon aus diesem Grund sollte es sich verbieten, Marx als Kronzeugen und Ideenlieferanten für p o l i t i s c h e Körperschaften wie z.B. die Kommunistischen Parteien aufzurufen. Er selbst befürwortete eine politische Organisation der Arbeiter – aber als es dann losging und das Gründungsfieber ausbrach, hat er diese Organisationsversuche und ihre Programme immer nur aus den Augenwinkeln verfolgt, kommentiert und bemäkelt – weil er etwas viel Wichtigeres zu vollenden hatte: „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“, d.h. die kritische Analyse ihrer Wirtschaft.
Den meisten Scharfsinn, die bewunderungswürdigste Akribie und die größte Konsequenz steckte Marx in die Untersuchung des Marktes, also der Tauschbeziehung, also der Ware. Er beließ es nicht bei der Modellrechnung, wie viele Ökonomen vor und nach ihm, er schwang sich des öfteren zu kulturkritischen Exkursen auf, d.h. er wies nach, wie stark der Markt, wenn er nicht mehr nur lokal ist, die Beziehungen der Menschen prägt, ihr Denken beeinflußt, ihre Seelen affiziert. Und in dieser Funktion, als Markt-Kritiker, der über die im engernen Sinn ökonomischen Fragen hinausdenkt, ist Marx bis heute von bemerkenswerter Aktualität.
Das bedeutet natürlich, daß Marx´ leidenschaftliches Plädoyer zur Einschränkung der Marktfreiheit um der Freiheit der Menschen willen, nicht ausgereicht hat, um in uns Heutigen ein Bewußtsein davon zu wecken, wie problematisch das Steuerungsinstrument ist, dem wir unsere Ökonomie anvertrauen. Es bedeutet, daß der Markt über seine Kritiker gesiegt hat. Seine Faszination ist offenbar trotz der zerstörerischen Dysfunktionen, die diesem Preisbildungs-, Allokations- und Verteilungsmechanismus innewohnen, nicht zu brechen. Inzwischen weiß jeder, daß der Markt nicht nur schlecht funktioniert, sondern daß er ungefähr genauso viel Unheil wie Heil anrichtet – und trotzdem preisen wir ihn unverdrossen, sind froh, daß wir ihn haben, machen den jüngst aus der Erstarrung erlösten osteuropäischen Ländern die schönsten Hoffnungen, sofern sie sich nur uneingeschränkt zur Marktwirtschaft bekennen – und verschwenden kaum einen Gedanken daran, wie man den Marktmechanismus einengen, kontrollieren, kompensieren kann, was man tun muß, um seine destruktiven Tendenzen zu unterdrücken. Die Sozialdemokratie galt früher als die Partei, die sich diesem Thema stellte, ja die sogar praktische Konsequenzen aus ihrer Kritik zog – aber jene Zeiten sind vorbei. Heute gibt es keine politische Kraft mehr, die über die Marktwirtschaft hinausprojektiert – wer das täte, setzte sich sofort dem Verdacht aus, er wolle die Planwirtschaft einführen und das Rad der Geschichte zurückdrehen. Diese Propaganda funktioniert heute noch genauso gut wie zu der Zeit, als der Eiserne Vorhang die Welt noch in Blöcke teilte. Und das ist seltsam und bedauerlich, denn heute existiert kein Gegenentwurf zur Marktwirtschaft mehr – was Kritik an ihr umso notwendiger macht. Aber auch einfacher, da es die „falsche Seite“, deren Applaus stören könnte, nicht mehr gibt.
Was Marx herauspräparierte, als er sich dem Markt kritisch analysierend zuwandte, war, daß er, der Markt, eine u n p e r -s ö n l i c h e Steuerungsinstanz ist, daß durch ihn b l i n d e Mächte über Wohl und Wehe von Kaufleuten, Kapitalisten und Arbeitern entscheiden. Zu seiner Zeit, als es noch keine Arbeitslosenversicherung gab und auch noch viel mehr Schwindelfirmen und Kleingewerbetreibende die Wirtschaft unsicher machten, als das ökonomische Leben noch längst nicht so starkt v e r r e c h t l i c h t war wie heute, hatten seine Bedenken die Macht des Faktischen auf ihrer Seite. Mittlerweile hat man in Erfahrung gebracht, daß gerade das Unpersönliche an der Steuerungsinstanz Markt sowie ihrem Schmiermittel, dem Geld, seine Vorteile hat. Persönliche Steuerung durch Bürokratien ist weit schwerfälliger, oftmals dysfunktional und nie frei von Willkür und Machteinsprengseln wie Erpressung, Bestechung, Verzögerung usw. Konkurrenz belebt, ist allerdings wirklich nur das Geschäft; aber geht es bei der Arbeit denn nicht um mehr? Es gibt durchaus Punkte, an denen Marx´ Markt-Kritik immer noch greift: die unpersönliche Steuerungsinstanz kennt nur das Geld als Maßstab, und was sich nicht in Geld ausdrücken läßt, existiert für sie nicht. Alle Faktoren, die im Wirtschaftsleben sonst noch eine Rolle spielen wie Ausbildung, Betriebsklima, besondere Chancen für Benachteiligte, Gesundheitsfürsorge, Erholung, Betriebsfeste, Bereitschaft zu Überstunden und Lohnverzicht – der ganze „moralische“ Überbau und menschliche Unterbau werden n i c h t vom Markt geregelt. Und würde er es doch, d.h. risse der Markt auch noch die Zuständigkeit für diese „menschliche“ Seite des Wirtschaftslebens an sich, bräche binnen kurzem alles zusammen. Irgendwo muß die Zone der persönlichen Steuerung beginnen. Und daß der Arbeitsmarkt von allen Märkten der regulierteste Markt ist, ist kein Zufall.
Die Arbeiter und Angestellten, die täglich in ihre Büros, Werkhallen, Ateliers, Behörden, Läden usw. strömen, um sich ihr Brot zu verdienen, sind ja Menschen mit Fähigkeiten, Schwächen, Wünschen, Ideen Gefühlen, Befürchtungen, Hoffnungen. Dieses Innenleben, von dem auch die Wirtschaft befruchtet oder gehemmt wird, je nachdem, läßt seine Leistungen und seine Irrtümer ab einem gewissen Punkt nicht mehr in Geld messen. Ein Ingenieur, der eine geniale Idee hat, kann eine Erfindung machen und für sein Patent Geld einstreichen. Ist die Idee aber „nur“ dazu gut, in seiner Abteilung die Zusammenarbeit etwas reibungsloser zu gestalten und zu mehr nicht, dann wird er mit dem Dank seines Chefs vorliebnehmen – hier hört die monetäre Konvertierbarkeit auf. Und daß solche persönlichen Bande, Beziehungen, Einflüsse und Reibungen zwischen den Menschen nicht nur erhalten bleiben, sondern sogar ausgeweitet werden, daß sie nicht durch die Perfektionierung der Märkte immer weiter schwinden und ausdünnen – das war eine der Sorgen von Karl Marx. Es war vielleicht sogar seine größte Sorge; und die größte Hoffnung, die er in die Überwindung der Marktwirtschaft, in die kommunistische, als einer gemeinschaftlichen, über personale Steuerung vermittelten Ökonomie setzte, war die in eine Belebung und Erweiterung der zwischenmenschlichen Beziehungen – die er in Tausch- und Geldbeziehungen erkalten sah. Lag er mit dieser Befürchtung so völlig falsch?
Die 90er, auch schon die späten 80er Jahre scheinen sich zu Dekaden der Markt-Verhimmelung herausmausern zu wollen. Vieles, von dem man dereinst glaubte, es könne nie und nimmer zu Markte gehen, tritt jetzt den Beweis des Gegenteils an. Hätte man sich zu Marx´ Zeiten vorstellen können, daß „Leihmütter“ für Geld die Babies anderer Eltern austragen, daß menschliche Organe, in „Banken“ tiefgekühlt, Schwarzmarktpreise erzielen? Nicht nur die medizinisch-technischen Voraussetzungen, die für solche Märkte vorliegen müssen, hätten Marxens Phantasie überfordert – unglaublich wäre es ihm auch erschienen, daß die moralischen Schranken, die zu seiner Zeit sowohl ein solches Angebot als auch die entsprechende Nachfrage unmöglich gemacht hätten, daß diese Schranken je fallen könnten. Und hätte er einen vorausahnenen Blick in unsere Zeit werfen können, hätte er seine Markt-Kritik womöglich noch eine Nuance schärfer gefaßt.
Was der Markt nicht regeln kann oder soll, übernimmt der Staat oder sonst eine gemeinschaftliche, kommunale Instanz. Die Arbeiterbewegung sorgte dafür, daß gewisse Existenzrisiken gerade der Ärmsten durch Umverteilung vom Staat abgesichert wurden. So kamen die Krankenkassen, die Arbeitslosenversicherung, die kostenlose Elementarschule in unsere Welt. Das war ein großer zivilisatorischer Fortschritt und ganz in Marx´ Sinn. Heute nun versucht man die staatliche Bereitstellung von Sicherheit, aber auch von Kultur zurückzufahren. Der Markt, heißt es, könnne das alles besser. Und was sich am Markt nicht halte, habe kein Existenzrecht.
Ausgangspunkt ist bei der Rechtfertigung jener regelrechten Welle von Privatisierungen, die seit Anfang der 80er Jahre rollt, meistens der Hinweis auf die Schwerfälligkeit und Kostenintensität der personalen Steuerung. Mit ihr ist immer die Gefahr verbunden, daß Herrschaft sich bürokratisch „verselbständigt“, daß Verschwendung und Inkompetenz blühen. Damit muß man rechnen, dem muß man vorbeugen. Diese „Auswüchse“ lassen sich zurückschneiden, ein bißchen Kontrolle genügt. – Im freien Wettbewerb, also in der privaten Marktwirtschaft, werden selbstverständlich Kosten gespart, vor allem Personalkosten, was aber keineswegs bedeutet, daß die Kunden aufs Beste bedient werden. Als die Telefone noch von der staatlichen Post betreut wurden, genügte bei Störung ein Anruf, und am nächsten Tag erschien ein Techniker. Heute, wo das Fernsprechwesen weitgehend privatisiert ist, dauert es eine Woche, bis jemand kommt, um ein kaputtes Telefon zu reparieren. Außerdem steigen die Gebühren. So ist das immer bei der Privatisierung staatlicher Leistungen: der Service verschlechtert sich, und allles wird teurer.
Ist das nun Schikane? Nein, es bedeutet nur, daß unter w i r t s c h a f t l i c h e n Gesichtspunkten mit schlechterem Service und zu höheren Preisen gearbeitet werden kann, und daß wirtschaftliche Gesichtspunkte vielleicht nicht immer und überall maßgeblich sein sollten.
Vorher, als alles besser war, ist die Telekommunikation offenbar ein Zuschußgeschäft gewesen (in bestimmten Bereichen). Der Staat hat Steuergelder drauflegen müssen, um eine derart preisgünstige Grundversorgung mit Geräten zu garantieren. Die Frage ist nun: sollte bei gewissen Dienst-, Versorgungs- oder Versicherungsleistungen die Gesellschaft nicht als ganze j a dazu sagen, daß der Staat (d.h. sie, die Gesellschaft, mittels ihrer Steuern) Geld zuschießt? Ist es nicht bei elementaren Voraussetzungen der Zivilisation wie Gesundheitsfürsorge, Bildung, Kommunikation, Kultur, Infrastruktur, Verkehr sogar n o t w e n d i g , daß hier n i c h t unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gehandelt wird, sondern unter „menschlichen“?? – was immer bedeutet: die Kosten sind nicht so wichtig wie die Sache, sie werden deshalb von der Allgemeinheit getragen. Es wird nicht mehr lange so sein, daß der Bewohner eines abgelegenen Berghüttchens sich sein Telefon zum selben Preis installieren lassen kann wie der Bewohner eines Ballungsraumes. Früher hielt man die Telekommunikation für einen so wichtigen Faktor des täglichen Lebens, daß man fand: für alle müssen dieselben preislichen Voraussetzungen gelten, wenn sie sich mit ihren Kommunikationswünschen ins Fernsprechnetz einspeisen, egal, wo sie wohnen. Jetzt wird diese Überzeugung geopfert. Der Markt und der Preismechanismus fressen ein Stück solidarischer Menschlichkeit.
Ein anderes Beispiel sind die Radio- und Fernsehsender. In den beiden öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF hatte sich die Bundesrepublik eine Medienlandschaft mit starken Trutzburgen gegen eine Trivialisierung der elektronischen Information und Unterhaltung geschaffen – sie war lange Zeit zurecht stolz darauf. Inzwischen schnappt der Markt mit weit aufgerissenem Rachen nach dem Fernsehwesen. Es hat offenbar nicht ausgereicht, daß vor heuer elf Jahren Frequenzen fürs private Fernsehen freigemacht wurden; die Existenzberechtigung der überlebenden Alt-Sender wird immer wieder infrage gestellt – natürlich von den TV-Markt-Strategen, die ihre politischen Freunde vor allem bei den Konservativen haben und froh wären, wenn die bedrohliche, da seriöse und immer noch hochangesehene öffentlich-rechtliche Konkurrenz entfiele.
Was hat das nun alles mit Marx und dem Markt zu tun? Öffentlich-rechtliche Fernsehsender sind teuer, sie machen – so lautet ihre Verfassung – nur wenig Werbung, ihre Ausgaben müssen von woandersher gedeckt werden. Mit G e b ü h r e n , einer Quasi-Steuer, verpflichtet sich das Zuschauer-Volk, seine öffentlich-rechtlichen Sender zu finanzieren; es ruft sozusagen im Chor: ja, wir möchten Programmanbieter haben, die nicht kommerziell orientiert sind, die deshalb immer ein bißchen zuverlässiger, solider, genauer, geduldiger in der Information und ein bißchen qualitätsbewußter, minderheitenbezogener und experimentierfreudiger in der Unterhaltung sein können als Privatsender. Für die der „Kulturauftrag“ kein leeres Wort und pädagogisch wertvolles Kinderfernsehen nicht unerschwinglich sind. Und wir sind bereit, als Fernseh-Nation, dafür Gebühren zu zahlen. – Dieses – unausgesprochene aber vorhandene und wirksame – konsensuelle Versprechen der Bevölkerung soll heute nicht mehr gelten. Die den Markt vergötzenden Politiker wollen es zurücknehmen. Und sie begreifen wahrscheinlich nicht einmal, daß sie dadurch nicht nur Arbeitsplätze und ein gutes, erprobtes, lange eingeführtes Programm bedrohen, sondern auch die Fähigkeit der Gesellschaft, einen personalen, „menschlichen“ Willen zu formuliern, eine Zone ihres Betriebes und Bedarfs aus dem Marktgefüge herauszulösen und zu entscheiden: Wir leisten uns diese Sender (diese Post, dieses Gesundheitswesen, dieses Theater etc.), wir legen dafür zusammen, das ist es uns wert.
Marx ging es genau um diese Frage: daß und wie die Gesellschaft einen Weg findet, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, o h n e sich dabei dem seelenlosen Marktmechanismus auszuliefern. Seine Alternative hieß allerdings nicht: Staat. Von zentraler Steuerung der Wirtschaft spricht er nirgends, dafür oft von der „Gesellschaft“ oder dem „Gemeinwesen“, das seine Ökonomie „unmittelbar“ selbst regeln solle. Wie das im einzelnen zu geschehen habe, wollte Marx der Praxis überlassen. Er hat da kaum Vorschläge gemacht. Aber es ist zu vermuten, daß ihm ein Geflecht von gemeinwirtschaftlicher, genossenschaftlicher, öffentlich-rechtlicher, kommunaler, staatlicher, und privatwirtschaftlicher Einheit vorgeschwebt hat, wobei die staatlichen Fernsehsender sich eine Kontrolle ihrer Bürokratie, die privatwirtschftlichen sich eine Kontrolle ihrer Geschäftspolitik gefallen lassen müßten.
Hier steckt eine Utopie, die druchaus entwicklungsfähig ist. Die Alternative zum Markt ist nämlich nicht immer nur „der Staat“ in all seiner ökonomischen Inkompetenz – es gibt eine Menge Zwischenformen, für die unsere öffentlich-rechtlichen Rundfunksender ein gutes, erfolgreiches Beispiel sind. Es stimmt auch nicht, daß der Markt keine „fremden“, als personal vermittelnde Strukturen nében sich duldet, daß er „rein“ bleiben müsse, um seine Potenz voll zu entfalten. Seit jeher hat der Staat auch wirtschftliche Aufgaben erfüllt und den Markt offenbar nicht daran gehindert, sich weltweit zu verflechten.
Das wichtigste an der „politischen“, personal vermittelnden Ökonomie ist, daß es bei ihr um Willensbildungsprozesse, um den Austausch von Vorstellungen, Plänen, Entwürfen geht, um – wie Marx es nennt - das „Selbstbewußtsein“ des Gemeinwesens. Der Markt spricht in restringierten Codes, sein letztes Wort ist immer eine Zahl. Die Gesellschaft aber hat noch andere Sorgen als nur Geld. Und sie will auch darüber reden. Ein Nebeneffekt der Markt-Vergötzung in unserer Zeit ist, daß dieses Reden nicht mehr stattfindet. Hier haben wir ihn, den Grund für die sogenannte Politikverdrossenheit, über die alle Medien seufzen.

 

 

Marx-Devisen.
Notizen zu Dieter Hubers Marx Projekt Trier
Ivo Kranzfelder
I
Anläßlich des sogenannten Zusammenbruchs der realsozialistischen Systeme des Ostens lancierten die sogenannten C-Parteien dieser Republik ein Plakat, auf dem ein Marx-Porträt kombiniert wurde mit dem Spruch "Proletarier aller Länder, vergebt mir!" Ein anderer Spruch, der kursierte, lautete sinngemäß, der Kapitalismus habe mitnichten gesiegt, er sei lediglich übriggeblieben. Die Verteufelung von Marx, wie sie 1989/90 erneut und verstärkt wieder einsetzte — sein Privatleben wurde hemmungslos in Biographien ausgeschlachtet und mit seinen Gedanken quasi gleichgesetzt — hat ebenso wie das erwähnte Plakat etwas Groteskes an sich. Als allerdings aus, wie es hieß, finanziellen Gründen die weitere Bearbeitung und Herausgabe der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) gefährdet war, hörte der Spaß auf.
"Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung!" So könnte man es heute wieder tönen hören, wäre da nicht der Nachsatz: "Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky." Die Formeln zur Bücherverbrennung veröffentlichte der Fränkische Kurier vom 12. Mai 1933. Abgedruckt ist dieses Dokument in einem der Bücher, die im Überschwange des 'Sieges' des Kapitalismus und in der immensen medien-, technik- und fortschrittsbedingten Beschleunigung des Vergessens und des Verdrängens unter den Tisch gefallen sind. "Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871-1933" wurde 1959 von Harry Pross herausgegeben. Im Kapitel über "Kulturpessimismus" spricht Pross von einer "hybriden Arbeitslust" des Volkes in dieser Hoch-, wenn nicht Höchstphase der Industrialisierung, und von der "Auflösung des Ich durch Arbeit", die erzwungen sein könne, die aber auch "durch freiwillige Unterwerfung des Menschen unter die verabsolutierte Arbeit erfolgen" könne. Die Arbeit gewähre dann eine Befriedigung, die sonst in Abhängigkeit von anderen Lustempfindungen gewonnen werde: "Solche 'Arbeitstiere' haben in der Hierarchie die besten Aussichten, weil sie sich deren Apparat mit Haut und Haaren verschreiben und ihn zu ihrem Lebensinhalt machen. Sie verkörpern eine Art von wirtschaftlichem Militarismus, denn andere als die Maßstäbe ihres Apparates lassen sie nicht gelten." Es ist die Rede vom deutschen Kaiserreich um 1890, etwas über hundert Jahre später sind wir in etwa wieder dort gelandet — angereichert mit verschiedenen Verfeinerungen wie Bespitzelung und Verleumdung, bekannt unter dem neudeutschen Ausdruck "mobbing".
Es mutet unter solchen Umständen fast rührend an, wenn man in diesem Zusammenhang zurückverweist auf Marx' frühe Kritik an der Arbeitsteilung, wie er sie in der "Deutschen Ideologie" formuliert hat. In der kommunistischen Gesellschaft, so führt er aus, regele die Gesellschaft die allgemeine Produktion und mache es einem möglich, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden", wie man gerade Lust habe. An diese vielzitierte Stelle schloß sein Schwiegersohn an, der 1842 in Kuba geborene Paul Lafargue, verheiratet mit Marx' Tochter Laura. Lafargue veröffentlichte 1883, im Todesjahr von Karl Marx, die Schift "Le Droit à la paresse, réfutation du Droit de travail de 1848" (Das Recht auf Faulheit, Widerlegung des 'Rechts auf Arbeit' von 1848).
Dort fanden die utopischen Elemente des frühen Marxschen Denkens ihre Fortsetzung, gerichtet gegen die bürgerliche Arbeitsmoral, aber auch in Opposition zur späteren Vergötterung der Arbeit in kommunistischen Staaten. Dieses lange vergessene und auch heute nur sporadisch und wenn, dann als Satire wahrgenommene Buch hat 1974 der renommierte Kirchenhistoriker Ernst Benz zum Anlaß für eine Publikation genommen. Mit unverhohlener Sympathie und genüßlich zitiert Benz Lafargue, wenn dieser vom "Haß wider die Arbeit" berichtet oder von den "glücklichen Völkern, die noch zigarettenrauchend in der Sonne liegen".
Der, wie Benz es nennt, "pathologischen Arbeitswut" setzte Lafargue die Forderung nach einer maximalen dreistündigen Arbeitszeit pro Tag gegenüber, weit hinausgehend über heutige Forderungen der Gewerkschaften. Nicht genug damit, bedauert es der Kirchenhistoriker, daß noch kein Theologe versucht habe, aus dem Neuen Testament eine Theologie der Faulheit zu entwickeln. Als schlagenden Beweis zitiert er in Anschluß an Lafargue die Bergpredigt: "Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: 'Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?' Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den anderen Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe."
Marx hatte ein leicht zwiespältiges Verhältnis zu Lafargue. Dieser lernte seinen späteren Schwiegervater 1865 in London auf dem ersten internationalen sozialistischen Studentenkongreß kennen. Aufgrund der radikalen Ansichten, die er dort vortrug, wurde er von allen französischen Universitäten ausgeschlossen und beendete sein Medizinstudium in England. Im Hause Marx verkehrend, umwarb er dort die Tochter Laura, mit der er sich dann im August 1866 verlobte. Im März dieses Jahres schrieb Marx an Laura: "Dieser verdammte Schlingel Lafargue belästigt mich mit seinem Proudhonismus und wird wohl nicht eher ruhen, bis ich ihm einmal tüchtig etwas auf seinen Kreolenschädel gegeben habe." Heiraten kann der "Kreolenschädel" aber erst, wenn er sein Doktorexamen gemacht hat und einige andere Voraussetzungen erfüllt, wie aus einem Brief von Marx an Engels hervorgeht: "Ich habe aber noch gestern unserem Kreolen mitgeteilt, daß, wenn er sich nicht zu englischen Manieren down kalmieren kann, Laura ihn ohne Umstände an die Luft setzen wird. Dies muß er sich völlig klar machen, oder es wird nichts aus der Sache. Er ist ein kreuzguter Kerl, aber enfant gâté und zu sehr Naturkind."
Wie es bei dumpfer Polemik der Fall zu sein pflegt, werden Menschen mit unliebsamer Wirkung dadurch verunglimpft, daß man ihnen ihr Menschsein vorwirft, bei Politikern und amerikanischen Filmschauspielern eine beliebte Methode. Wenn die an den Trend der Zeit sich Hängenden Marx' Verhältnis zu seiner langjährigen Haushälterin Helene Demuth, aus dem ein Sohn hervorging, als Beweis seiner auch sonstigen Schlechtigkeit hernahmen, dann kann man auch fragen, warum sie seine Karbunkel, die im übrigen von Lafargue behandelt wurden, nicht in dieser Weise ausschlachteten.
Das utopische Element der Marxschen Denkansätze zählt nicht mehr zu einer Zeit, die sich nach Aussage neuerer Ideologen von der Utopie verabschiedet hat. Die Zeit der großen Erzählungen, so heißt es, sei vorbei. Die eine große Utopie, die marxistische bzw. die kommunistische, ist in ihrer versuchten Verwirklichung gescheitert, die Verwirklichung der anderen, der christlichen, hält sich — mit in letzter Zeit nachlassendem Erfolg — seit beinahe 2000 Jahren. Es zeigt sich, daß die metaphysische Begründung einer Ideologie wirksamer ist als die materialistische. Die crux besteht darin, daß eine Utopie zum Zeitpunkt ihrer 'Verwirklichung' aufhört zu existieren, geht man rein vom Wortsinne aus: der griechische Begriff meint den "ou-topos", den Nicht-Ort, das Nicht-Existente. Man könnte also schlußfolgern, daß die Institution Kirche mit der Lehre Christi ebensowenig zu tun hat wie der real existierende Sozialismus mit der Lehre von Marx. Als Ausgangspunkt des Christentums gilt das Neue Testament, als der des Marxismus die Schriften von Marx und Engels. Nun ist diese jeweilige Basis auch nur eine scheinbare. Im Falle des Marxismus meinte dazu Iring Fetscher: "Die Geistesgeschichte des Marxismus ist ein Teil der abendländischen Geistesgeschichte. Wie jeder Teil eines größeren historischen Ganzen kann auch dieser nicht ohne Gewalttätigkeit isoliert werden. Man könnte die Quellen Marxschen und marxistischen Denkens nach rückwärts bis zur antiken Philosophie und zur jüdisch-christlichen Theologie verfolgen und zugleich nach vorwärts bis zur Gegenwart, in der europäischer Marxismus mit außereuropäischen Weltreligionen und Kulturen sich vermischt." Ähnliches gilt mutatis mutandis auch für das Christentum. Arno Schmidt bemerkte dazu polemisch: "Solange man als die reinste Quelle 'Göttlicher Wahrheit', als heilige Norm der 'Vollendeten Moral', als Grundlage von Staatsreligionen ein Buch mit, milde gerechnet, 50 000 Textvarianten (also pro Druckseite durchschnittlich 30 strittige Stellen!) proklamiert; dessen Inhalt widerspruchsvoll und oft dunkel ist; selten auf das außerpalästinensische Leben bezogen; und dessen brauchbares Gute (schon vor ihm und zum Teil besser bekannt) auf unhaltbaren Gründen eines verdächtig-finsteren theosophischen Enthusiasmus beruht: solange verdienen wir die Regierungen und Zustände, die wir haben!"
II
Kommen wir noch einmal zurück auf das "Recht auf Faulheit", das, utopische Vorstellungen des jungen Marx aufgreifend, harsche Kritik am "Recht auf Arbeit" übt, einem Recht, das später zu einer sakrosankten Formel des Kommunismus geworden ist. Es wurde schon von Fetscher wie auch von Benz darauf hingewiesen, daß Lafargues Ansatz in einer ursprünglich romantischen antibürgerlichen Haltung wurzelt, bei Friedrich Schlegel, Oscar Wilde oder Charles Baudelaire. Letzterer schrieb in "Mon cœur mis à nu": "Was mich groß gemacht hat, war zum Teil der Müßiggang. Zu meinem großen Nachteil; denn ohne Vermögen vermehrt der Müßiggang die Schulden und die Schmählichkeiten, die das Schuldenmachen mit sich bringt.
Zu meinem großen Vorteil jedoch, was die Reizbarkeit der Empfindung, die Meditation und die Begabung zum Dandy und Dilettanten betrifft. Die anderen Schriftsteller sind zum größten Teil sehr unwissende Lumpen und Streber." Was Baudelaire hier anspricht, könnte man parallel sehen zu Marx' Kritik an der entfremdeten Arbeit. Wenn man die Tätigkeit des Künstlers als prototypisches Beispiel nicht-entfremdeter Tätigkeit sieht, also von einer Autonomie der Kunst ausgeht, müßte das Marx eigentlich entgegengekommen sein. Dem ist aber nicht so. Wieder in der "Deutschen Ideologie" wendet Marx sich gegen Max Stirners Behauptung, daß beispielsweise Raffaels Arbeit niemand ersetzen könne: "Sancho [d.i. Stirner; I.K.] bildet sich ein, Raffael habe seine Gemälde unabhängig von der zu seiner Zeit in Rom bestehenden Teilung der Arbeit hervorgebracht. Wenn er Raffael mit Leonardo da Vinci und Tizian vergleicht, so kann er sehen, wie sehr die Kunstwerke des ersteren von der unter florentinischem Einfluß ausgebildeten damaligen Blüte Roms, die des zweiten von den Zuständen von Florenz und später die des dritten von der ganz verschiedenen Entwicklung Venedigs bedingt waren. Raffael, so gut wie jeder andere Künstler, war bedingt durch die technischen Fortschritte der Kunst, die vor ihm gemacht waren, durch die Organisation der Gesellschaft und die Teilung der Arbeit in seiner Lokalität und endlich durch die Teilung der Arbeit in allen Ländern, mit denen seine Lokalität in Verkehr stand. Ob ein Individuum wie Raffael sein Talent entwickelt, hängt ganz von der Nachfrage ab, die wieder von der Teilung der Arbeit und den daraus hervorgegangenen Bildungsverhältnissen der Menschen abhängt." An anderer Stelle heißt es dann noch, es gebe in einer kommunistischen Gesellschaft keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen.
Nach der Doktrin marxistisch-leninistischer Ästhetik ist die Kunst integriert in den historischen, materiellen, sozialen und kulturellen Prozeß der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. Gegen einen solchen 'mechanischen Materialismus' führte der Kunsthistoriker Max Raphael eine Stelle aus der Einleitung zur "Kritik der politischen Ökonomie" an, in der Marx die Frage stellt, warum die griechische Kunst einen "ewigen Reiz" und einen normativen Charakter besitze, obwohl ihre wirtschaftlichen Grundlagen längst überwunden seien. Raphael leitet von dieser Bemerkung eine Differenzierung der dogmatischen marxistisch-leninistischen Ästhetik ab, die in eine Methode mündet, die eine Alternative bildet zu reiner Stilgeschichte, Künstlergeschichte oder Ersatzreligion: "Die ökonomische Situation mit der geschichtlich jeweils konkreten materiellen Produktion und Reproduktion des Lebens wirkt notwendig, aber nicht automatisch auf das geistige Schaffen. Es gibt in diesem Abhängigkeitsverhältnis keinen vollkommenen Determinismus, weil die Menschen, wenn auch 'in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener, tatsächlicher Verhältnisse' (Engels) ihre Geschichte selbst machen." Dabei unterscheidet Raphael in der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung zwischen einer synthetischen und einer materialistisch-dialektischen Geschichtsauffassung. Erstere begreift er als reines Agglomerat, letztere als "einheitliche Wissenschaft der Geschichte", die "nur möglich ist auf Grund durch Begriffe konstituierter Wissenschaften aller Gebiete". Gemeint ist also, daß es einen Zusammenhang, sogar eine behauptete Homologie, gibt zwischen historischer gesellschaftlicher Entwicklung und dem individuellen künstlerischen Schaffensakt unter Berücksichtigung oder gerade trotz ihrer Unterschiede; daß die Methode der Betrachtung der verschiedenen zu berücksichtigenden, wie Raphael es nennt, "Bewußtseinsgebiete" gleich ist; und schließlich daß mit dieser Methode eine konkrete Analyse aller anstehenden Probleme möglich ist.
Was Raphael im Aufsatz "Prolegomena zu einer marxistischen Kunsttheorie" ausführt, hat er anhand der Werkinterpretation von Corots "Römischer Landschaft" in Kürze geäußert. Man müsse, so meint er, "der Methode der künstlerischen Gestaltung, die von einem Individuum vollzogen wird, die Methode (oder Methoden) der Geschichtsgestaltung" gegenüberstellen, "die von der ganzen Gesellschaft (als ein Begriff gegensätzlicher Klassen) vollzogen wird, und indem man den partiellen Zusammenhang zwischen beiden in Form und Inhalt des Kunstwerks nachweist". Aufschlußreich ist hier der einschränkende Zusatz "partiell", der verdeutlicht, was Marx selbst mit seiner Bemerkung über die griechische Kunst andeutete, und was auch durch überbrückende Hilfskonstruktionen nicht auszumerzen ist, nämlich den letztendlichen Rätselcharakter von Kunst. Adornos Diktum spricht hier eine deutliche Sprache: "Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine." Das impliziert auch, daß eine wie auch immer geartete Indienstnahme von Kunst scheitern muß, sei es auf Kosten der indienstnehmenden Institution (selten) oder sei es auf Kosten der Kunst (meistens). Ob es sich hierbei um ein demokratisches oder ein diktatorisches System handelt, spielt überhaupt keine Rolle.
Ein Kernpunkt bei der Betrachtung von Kunst — und zwar sowohl alter wie auch neuer Kunst — ist die Empirie, gemäß dem zwar überstrapazierten, aber nicht gänzlich von der Hand zu weisenden Satz von Marx, daß nicht das Bewußtsein das Leben, sondern das Leben das Bewußtsein bestimme. Während die gängige Kunstkritik in vielen Fällen sich in religiös-idealisierenden Phrasen ergeht, ist es höchste Zeit, wieder an Tugenden zu erinnern, die allgemein Marx formuliert und an die speziell für die Kunstwissenschaft Aby Warburg in gewisser Weise angeknüpft hat: "Das enthusiastische Staunen vor dem unbegreiflichen Ereignis künstlerischer Genialität kann nur an Gefühlsstärke zunehmen, wenn wir erkennen, dass das Genie Gnade ist und zugleich bewußte Auseinandersetzungsenergie. Der neue grosse Stil, den uns das künstlerische Genie Italiens beschert hat, wurzelte in dem sozialen Willen zur Entschälung griechischer Humanität aus mittelalterlicher, orientalisch-lateinischer 'Praktik'." Entscheidend ist wiederum das Verhältnis zwischen individueller künstlerischer Betätigung, der Ideen- und Geistesgeschichte und den das Künstlerindividuum umgebenden materiellen Bedingungen.
III
Karl Marx ist, nicht zuletzt durch Kampagnen wie die anfangs erwähnte, endgültig zur persona non grata geworden. Marx, Lenin, Stalin und alle möglichen Diktatoren, die sich auf Marx beriefen und, vereinzelt, noch berufen, werden in einen Topf geworfen. Die Zahl derer, die sich an philosophischen Seminaren der Universitäten mit Marx beschäftigen, sinkt ständig. Dagegen ist es ein Allgemeinplatz, daß Marx zwar einer der meist zitierten — und sei es nur der Schlußsatz aus dem Kommunistischen Manifest — aber am wenigsten gelesenen Autoren ist. Wer heute noch mit Marx daherkommt, wird allenfalls belächelt. Eine 'Ästhetik' von Marx existiert nicht, etwas ähnliches wurde versuchsweise von sowjetischen Kunstwissenschaftlern aus verstreuten Zitaten zusammengestellt, erwähnt sei nur Michail Lifschitz' Anthologie mit dem Titel "Marx und Engels über die Kunst". Wichtig ist — ähnlich wie bei Freud — in diesem Falle die Methode, nicht die konkrete Untersuchung. Wer den Komplex Marx und Kunst unter dem Stichwort "Sozialistischer Realismus" abtut, liegt falsch. Dieser, das nebenbei, wurde vorbereitet in der Resolution "Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der belletristischen Literatur" des Zentralkomittees der sowjetischen Kommunistischen Partei aus dem Jahr 1925 und als offizielle Kunst dekretiert 1934 auf dem ersten Kongreß der Sowjetschriftsteller in Moskau.
Daß eine Veränderung der Welt durch Kunst oder durch Philosophie nicht möglich ist, das hat Marx in der elften seiner "Thesen über Feuerbach" schon impliziert. In den späten 20er und frühen 30er Jahren dieses Jahrhunderts war die Diskussion im Schwange, den Künstler in der revolutionären Aktion aufgehen zu lassen, und zwar auf Kosten der Kunst: "In Wahrheit handelt es sich viel weniger darum, den Künstler bürgerlicher Abkunft zum Meister der 'Proletarischen Kunst' zu machen, als ihn, und sei es auf Kosten seines künstlerischen Wirkens, an wichtigen Orten dieses Bildraums in Funktion zu setzen. Ja, sollte nicht vielleicht die Unterbrechung seiner 'Künstlerlaufbahn' ein wesentlicher Teil dieser Funktion sein?" — soweit Walter Benjamin 1929.
Erneut flammte die Debatte um Autonomie oder Aufhebung der Autonomie der Kunst in den 60er und 70er Jahren auf. Lange Zeit wurde danach der Satz Adornos diskutiert, Kunst werde zum Gesellschaftlichen durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft, und jene Position beziehe sie erst als autonome. Die dann ausgerufene Postmoderne propagierte mit Achille Bonito Oliva und dem deutschen Apostel der Postmoderne, Wolfgang Welsch, der Künstler wolle nicht mehr der ästhetische Handlanger oder Propagandist einer gesellschaftlichen Utopie sein. Die Philosophie der Postmoderne, die sich hierzulande, in schon von Marx gegeißelter deutscher Art, größtenteils auf polemische Apologetik beschränkte, nannte sich nach dem Franzosen Lyotard "affirmativ" und fand infolgedessen höchste Akzeptanz. Zur Zeit herrscht relative Stille, mehr als affirmativ kann man sich nur in Überanpassung verhalten, und die schlägt leicht ins Gegenteil um, ist also potentiell gefährlich. Wir sind jetzt wieder an dem Punkt angelangt, der am Beispiel der Arbeit zu Beginn dieser Ausführungen erwähnt wurde.
Hier setzt Dieter Huber an. Gegen die dümmliche Technik des Propagandaplakats setzt er subtilere Strategien. Als Ausgangsmaterial benutzt er fotografische Aufnahmen von Karl Marx und Begriffe, die sowohl in Werk und Leben von Marx als auch für Huber selbst im Zusammenhang mit Marx eine Rolle spielen. Huber operiert mit Bild und Schrift oder, anders ausgedrückt, mit Anschauung und Begriff. Auch ihm geht es, um Warburg zu paraphrasieren, um die Entschälung einer Humanität aus gegenwärtiger Praxis, nur daß ein sozialer Wille dazu zur Zeit nicht in Sicht ist. Begriff und Bild sind nicht homolog, nicht tautologisch, nicht affirmativ. Sie weisen assoziative Bezüge zueinander auf. Jedoch ist Huber weit davon entfernt, seine Arbeiten ausschließlich der freischwebenden Assoziation des Betrachters zu überlassen oder reinen künstlerischen Subjektivismus darzubieten, der dann freigegeben wird zur Anbetung durch Kunstjünger. Inhalte und Begriffe werden reflektiert, die zwar zu Phrasen verkommen sind, deren eigentliche Bedeutung aber noch nicht verschüttet ist. Max Raphael schrieb zu Beginn der 40er Jahre: "Für Marx war die Mythologie ein Volksprodukt, für die Künstler und Ästhetiker des 20. Jahrhunderts lag der Reiz gerade in der persönlichen Umformung des Inhalts, so daß schließlich der unsinnige Begriff einer privaten Mythologie wahre Triumphe feierte." — Man erinnere sich an Harald Szeemanns "Individuelle Mythologien" 1972 auf der documenta 5. Huber hat die Fotografien von Karl Marx fragmentiert und verfremdet, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Die Begriffe sind den Bildern eingeschrieben, auch sie sind teils gut, teils weniger gut lesbar. Ihre Verbindung mit dem Bildgrund gehen sie oft dadurch ein, daß die Struktur des Grundes sich im Schriftbild fortsetzt. Die Begriffe sind jeweils farblich vom Fond abgesetzt. Die Schriftarten variieren und erzeugen bestimmte Konnotationen zu jedem Begriff. Diese wechseln, d. h. sie können dem Begriff entsprechend sein, ihm entgegengesetzt sein oder sich außerhalb seines Bedeutungsfeldes bewegen. So ist beispielsweise der Begriff "Individuum" in einer entindividualisierten, serifenlosen Schrift auf ein nicht zu entschlüsselndes graphisches Detail gesetzt, und zwar ohne daß der Bildgrund im Schriftbild durchschlüge.
Huber kombiniert traditionelle Techniken und Methoden mit modernsten Produktionsmitteln. Die als Basismaterial verwendete Fotografie wird mittels eines Rechners digitalisiert und verfremdet. Ein Schlüsselbegriff ist der der "Reproduktion": Vielfach, vor allem durch den enormen Industrialisierungs- und Technisierungsschub im 19. Jahrhundert führt der Weg von der einfachen Produktion zur Reproduktion. Davon ist die Bildherstellung nicht ausgenommen. Es ist kein Zufall, daß die Erfindung des Massenmediums Fotografie in die Zeit der industriellen Revolution fiel, in die Zeit der Ausbildung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, in die Zeit der Entwicklung der Naturwissenschaften und schließlich in die Zeit der Herausbildung moderner Staatsgebilde in der Nachfolge der Französischen Revolution. Die Reproduktion von Bildern setzt zwar schon mit der Entwicklung druckgraphischer Techniken ein, erreicht aber mit der Erfindung der Fotografie einen Höhepunkt. Die Fotografie, die dem Begriff "Reproduktion" unterlegt ist, zeigt einen Ausschnitt aus einem Bildnis von Marx während seiner Zeit als Chefredakteur der "Neuen Rheinischen Zeitung" in den Jahren 1848/49. Die Fotografie war damals gerade zehn Jahre alt, im Revolutionsjahr 1848 wurde das "Manifest der Kommunistischen Partei" veröffenlicht. Mehrere Ebenen von "Reproduktion" sind hier übereinandergelagert und durchdringen sich auf vielfältige Weise: das Reproduktionsmedium Fotografie, das der Zeitung — Marx also reproduziert in Bild und Wort —, die Reproduktion Hubers in seiner Arbeit und der Begriff der Reproduktion selbst. Im Buch ist dann wiederum die Reproduktion dieser vielfältigen Reproduktion zu sehen.
Der gewählte Ausschnitt zeigt den Teil eines Stuhles, auf dessen Lehne Marx seine Hände gelegt hat, weniger sich stützt, und seinen Hut, der auf der Sitzfläche liegt, gewissermaßen die materiellen Zutaten und Accessoires einer bürgerlichen Atelierfotografie: Reproduktion als Zubehör. "Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation… Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde." So steht es im "Manifest der Kommunistischen Partei".
Ausschnitt oder Close-up sind oft angewandte Techniken der Werbung bzw. der Propaganda, meist in Verbindung mit Schrift. Ein solches Verfahren hat einen Ursprung in der Emblematik, genauer gesagt in einer Abart des Emblems, in der Devise. Ein Emblem besteht aus drei Teilen, dem Motto (Lemma), dem Bild (Icon) und dem erklärenden Epigramm. Lemma und Icon bilden ein Rätsel, dessen Lösung durch das Epigramm ermöglicht wird. In der Devise steht oft der Text im Bild, das Epigramm fehlt, weil der Sinn auch ohne es erschlossen werden kann. Pierre J. Vinken hat schon in den späten 50er Jahren den Zusammenhang zwischen Emblematik und Werbung erkannt. Zur ursprünglichen Funktion der Devise schrieb er: "Die Devise wurde gepriesen, weil sie klein war und doch inhaltsreich, tiefsinnige Gedanken in eleganter Form in sich barg und durch ihre Schlichtheit und Geschlossenheit alle anderen intellektuellen Produkte bei weitem übertraf." Das trifft auf Werbung nur bedingt zu, da diese im Dienste des Produkts plakativ und auf Anhieb verständlich zu sein hat. Dagegen stehen die Arbeiten Hubers in ihrer Reduziertheit, der Konzentriertheit des Gedankens und der Form in dieser Tradition. Es sei ergänzend noch bemerkt, daß die Arbeiterorganisationen des 19. Jahrhunderts häufig Devisen auf ihren Fahnen trugen.
War die Fotografie zu Marx' Zeit das fortschrittlichste Produktions- und Reproduktionsmittel für Bilder, so ist es heute der digitale Rechner, der Computer. Es ist also folgerichtig, daß Huber in Analogie sich dieses Hilfsmittels bedient, um seine Zwecke auf der technischen Höhe seiner Zeit dementsprechend zu realisieren.